Interview zum Online-Seminar über Verschwörungserzählungen für Kolleg:innen verschiedener Studierendenwerke
Am 26. Januar 2021 bot das Studierendenwerk Darmstadt ein Online-Seminar mit dem Titel „Im Nebel der Verschwörungen – Kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen in der Corona-Krise“ an. Geleitet wurde das Seminar von Louisa Frenzel und Amanda Cohen aus dem Bereich Interkulturelles. Das Seminar stand allen interessierten Kolleg:innen der Studierendenwerke offen, nachdem im Sommer 2020 bereits zwei Durchläufe hausintern für die Mitarbeitenden des Studierendenwerks Darmstadt stattgefunden hatten.
Welche Themen wurden im Rahmen des Seminars behandelt?
L.F.: Wir betrachteten Merkmale, Funktionen und Mechanismen von Verschwörungserzählungen. Hierbei ging es uns darum, zu zeigen, wie und durch wen sie verbreitet werden und wie schnell das in der digitalen, globalisierten Welt gehen kann. Natürlich kamen wir auch zu einer kleinen Empowerment-Runde und besprachen, wie Verschwörungserzählungen entgegengetreten werden kann. Dies dient zur Sensibilisierung für eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Phänomenen.
A.C.: Genau, viele der gesellschaftlichen Phänomene sind ja nicht neu. Sie existieren schon sehr lang und werden oft nicht als solche erkannt. Dies macht Verschwörungserzählungen sehr gefährlich. Einen Fokus legten wir im Seminar daher auf das Erkennen von Diskriminierungsformen während der Corona-Pandemie, insbesondere Rassismus und Antisemitismus. Gerade Antisemitismus findet in Verschwörungserzählungen sehr gute Anknüpfungsmöglichkeiten.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Seminar zu diesem Thema anzubieten?
L.F.: Im Zuge der Corona-Pandemie stieg insbesondere antiasiatischer Rassismus. Auch Studierende waren und sind davon betroffen. Die sogenannten Querdenker- oder Hygiene-Demonstrationen, die in zahlreichen Städten durchgeführt wurden, verbreiten verschiedenste Verschwörungserzählungen. Vor einem Jahr wurden in Hanau (etwa 40 km nördlich von Darmstadt) neun Menschen aufgrund eines rassistischen Motivs brutal ermordet. Und dies aus einer Verschwörungsideologie des Täters heraus.
A.C.: Auch der Terrorist, der den Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 verübte, bezog sich auf Verschwörungserzählungen. Insgesamt stieg Antisemitismus in Deutschland im Jahr 2020 rasant an, auf durchschnittlich sechs (gemeldete) antisemitische Vorfälle täglich¹. Ebenso war der Angriff auf den Studenten in Hamburg antisemitisch² und ein Beispiel dafür, dass eben auch Studierende vor antisemitischen Übergriffen nicht gefeit sind.
Uns geht es in unseren Seminaren stets um eine kritische Meinungsbildung und Demokratieförderung. Daher haben wir uns dazu entschieden einen Workshop zu diesem Thema zu konzipieren und anzubieten.
Warum ist die Beschäftigung mit diesem Thema so wichtig?
A.C.: Wie gesagt, wissen wir, dass Studierende auch Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und weiterer gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ausgesetzt sind. Studierende und Andere treten an uns heran und teilen uns das persönlich mit. Auch Rückmeldungen zu unseren verschiedenen Veranstaltungen, wie der Ersten Intersektionalen Diversity Woche (InDiWo), zeigen uns, wie wichtig es ist, dass wir uns mit diesen Themen auseinandersetzen, dass wir Raum geben und für Pluralismus eintreten. Sich mit Hass, Hetze und Diskriminierungen auseinanderzusetzen erzeugt Reibung, Widerstand. Doch die Themen nicht anzusprechen wäre unehrlich und feige und gibt denen, die Hass streuen noch mehr Raum. Studierende und auch Kolleg:innen in den Studierendenwerken und den Hochschulen können die Pluralität in unserer Demokratie nur dann stärken, wenn ihnen bewusst ist, vor wem und wie sie zu schützen ist.
L.F.: Daran kann ich mich nur anschließen. Unseren Auftrag im Themenfeld „Interkulturelles“ verstehen wir als ein Einsetzen für eine offene und gewaltfreie Hochschullandschaft und Gesellschaft. Wir leisten einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung des Studierendenwerks Darmstadt. Dabei sind Workshops und Projekte, die wir organisieren, gerechtigkeits- und demokratiestärkend. Wir sind sehr froh, dass das Studierendenwerk durch die Etablierung unseres Bereichs Ausdrucksformen geschaffen hat, durch die dieser Auftrag umgesetzt und sehr offen neue Ansätze zur Unterstützung der Studierenden ausprobiert werden können. Für die Hochschulen und die Studierenden sind wir somit auch Ansprechpartnerinnen für weitere Themenkomplexe wie Anti-Diskriminierung.
In welchen Kontexten haben Sie zu diesem Thema bereits Seminare gegeben? Und wieso haben Sie es bei dieser Durchführung für Kolleg:innen anderer Studierendenwerke geöffnet?
L.F.: Letzten Sommer wurde das erste Mal das festival contre le racisme³ in Darmstadt durchgeführt. Hierfür konzipierten wir das Online-Seminar zunächst für Studierende und weitere Interessierte. Nach der erfolgreichen Durchführung folgten zwei Online-Seminare für unsere Kolleg:innen. Im Herbst ließ es das Pandemie-Geschehen zu, dass wir die Thematik in einem zweitägigen Workshop für die Auszubildenden des Studierendenwerks Darmstadt in einem größeren Umfang und mit weitreichenderen Aspekten bearbeiten konnten.
A.C.: Es war und ist uns ein wichtiges Anliegen, dass wir unser Wissen mit unseren Kolleg:innen vor Ort aber auch an anderen Standorten teilen. Wie bereits angesprochen, sind Studierende und Mitarbeiter:innen im Hochschulkontext nicht frei von Vorurteilen und auch nicht vor Diskriminierung geschützt, nur weil Hochschulen sich der Aufklärung verschrieben haben. Das wäre schön, entspricht jedoch leider nicht der Realität. Somit versucht unser Angebot anderen Kolleg:innen im Arbeitskontext mit Studierenden und auch im Umgang mit Kolleg:innen zu helfen, Vorurteile zu erkennen, Diskriminierung zu bekämpfen. Die Digitalisierung der letzten Monate macht es unglaublich leicht und günstig, unabhängig vom eigenen Standort an Veranstaltungen teilzunehmen und dadurch auch die Vernetzung und den Austausch unter den Studierendenwerken bzw. deren Mitarbeiter:innen zu stärken. Es ist eine wunderbare Gelegenheit, die Teilnahme nur vom Interesse abhängig zu machen und nicht (künstlich) durch eine lokale Zugehörigkeit zu beschränken.
Wie war die Resonanz?
L.F.: Wir waren sehr erfreut über die enorme Nachfrage aus den anderen Studierendenwerken. Innerhalb weniger Tage erhielten wir über 20 Anmeldungen aus den unterschiedlichsten Bereichen und Regionen. Insgesamt war das Feedback sehr positiv: Neben der Sensibilisierung für und den Austausch über das Thema schätzten die Teilnehmer:innen auch, dass das Seminar von Kolleginnen angeboten wurde und somit die Hemmschwelle z.B. bei Diskussionen oder Fragen geringer war. Grundsätzlich positiv wurde angemerkt, dass wir uns mit diesem Thema beschäftigen und Kolleg:innen anderer Studierendenwerke daran teilnehmen durften.
Was ist das Besondere am Online-Format und welche Vorteile sehen Sie?
A.C.: Das Besondere am Online-Format ist, dass wir mittels der Technik einen kurzweiligen Einblick in ein komplexes Thema geben können. Und dies ist lokal nicht begrenzt. Ohne Anreise, mit Kosten- und Zeit-Ersparnis. Gerade Zeit ist ein wichtiger Faktor. Online-Seminare tragen zu einer besseren Work-Life-Balance bei, sie sind nachhaltiger und geben Menschen die Möglichkeit, sich unkompliziert in einen Vortrag oder einen Workshop reinzuschalten, auch wenn das Thema vielleicht ungewohnt ist. Es ist eine Form der Teilhabe und Partizipation.
¹Parlamentarische Anfrage der Linken https://www.tagesspiegel.de/politik/taeglich-mindestens-sechs-angriffe-von-judenhassern-hoechststand-antisemitischer-kriminalitaet-seit-20-jahren/26905120.html letzter Aufruf 19. Februar 2021 (die Dunkelziffer wird deutlich höher sein, da ca. 80% der antisemitischen Vorfälle nicht gemeldet werden, wie z.B. die Studie der European Union Agency for Fundamental Rights (FRA) zum Antisemitismus in EU-Staaten schon 2013 aufzeigte)
² Zur Einschätzung der Tat als antisemitischer Angriff ein Artikel von Ronen Steinke, Jurist und Journalist: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/klare-sprache-ist-unverzichtbar/ letzter Aufruf 19. Februar 2021
³Das festival contre le racisme richtet sich gegen Diskriminierungen, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus etc. Es wird seit 2003 vom freien zusammenschluss der student*innenschaften (fzs) und dem bundesverband ausländischer studierender (bas) initiiert und wird jährlich in vielen Hochschulstandorten ausgetragen (https://www.contre-le-racisme.de/).